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Warum Jugendliche manchmal unkoordiniert werden - und weshalb genau das ein gutes Zeichen ist
By Andreas profile image Andreas
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Warum Jugendliche manchmal unkoordiniert werden - und weshalb genau das ein gutes Zeichen ist

Jugendliche wirken in Wachstumsphasen oft unbeholfen – doch dahinter steckt ein faszinierender biologischer Prozess. Dieser Artikel erklärt, was im Körper passiert und wie Eltern & Trainer Jugendliche sicher begleiten können.

Es beginnt oft plötzlich, manchmal beinahe über Nacht. Ein Jugendlicher, der monatelang sicher und selbstverständlich trainiert hat, verliert auf einmal das Gefühl für seinen eigenen Körper. Bewegungen, die sonst mühelos gelingen, wirken ungelenk und unsauber. Die Schrittlänge stimmt nicht mehr, der Ball fliegt unkontrolliert, Sprünge landen „irgendwie schief“. Für viele Jugendliche ist das frustrierend, für Eltern verwirrend, für Trainer schwer einzuordnen.

Doch so irritierend diese Phase wirken mag: Sie ist kein Alarmsignal, keine Leistungsflaute und kein Zeichen von mangelnder Konzentration. Vielmehr gehört sie zu den normalsten - und zugleich spannendsten - Vorgängen der menschlichen Entwicklung: dem Wachstum.


Ein Körper, der sich neu zusammensetzt

Der vielleicht wichtigste Punkt, den man als Athlet, Elternteil oder Trainer verstehen muss: Wachstum verläuft nicht harmonisch. Der Körper legt keine „gleichmäßige Version“ von sich selbst an. Stattdessen passiert Wachstum in Wellen - und jede Welle verändert Proportionen, Hebelverhältnisse, Muskelspannung und Gelenkstabilität.

Die Sportmedizinerin Dr. Hannah Manner beschreibt dieses Phänomen so:

„Während der Pubertät wächst das Skelett schneller als jeder andere Teil des Körpers. Bei einem Wachstumsschub ist es normal, dass der Knochen zwei, drei oder fünf Zentimeter zulegt, während Muskeln und Sehnen noch Wochen hinterherhinken.”

Diese zeitliche Verschiebung sorgt dafür, dass der Körper kurzfristig aus dem Gleichgewicht kommt. Die Muskulatur steht plötzlich unter Zug, Sehnen müssen sich verlängern, Gelenke benötigen neue Stabilität. Ein Knie, das jahrelang zuverlässig den Kraftfluss einer bestimmten Beinachse getragen hat, erhält plötzlich neue Winkel. Der Fuß trifft den Boden nicht mehr wie gewohnt, die Hüfte reagiert anders, die Wirbelsäule passt sich neu an.

Kurz gesagt: Der Körper wird „größer“, bevor er „stärker“ wird. Und genau in dieser Phase wirkt vieles unkoordiniert.


Warum das Gehirn der wichtigste Spieler bleibt

Während der Pubertät verändert sich nicht nur der Körper - auch das Nervensystem steht mitten in einem gewaltigen Update-Prozess. Neurowissenschaftler sprechen von einer „rekalibrierenden Phase der motorischen Programme“. Gemeint ist damit, dass Bewegungsmuster, die über Jahre automatisch abliefen, plötzlich nicht mehr exakt passen.

Die US-Sportwissenschaftlerin Prof. Janice Hill, deren Buch „The Adolescent Athlete“ zu den Standardwerken im Jugendsport gehört, fasst es so zusammen:

„Die größte Veränderung im Jugendalter findet nicht in den Muskeln statt, sondern im Gehirn. Es muss lernen, einen neuen Körper zu steuern. Und diese Lernphase ist intensiver als jede motorische Phase im frühen Kindesalter.“

Wenn Jugendliche plötzlich „daneben greifen“, „zu weit springen“ oder „zu spät bremsen“, hat das wenig mit talent- oder trainingsabhängigen Faktoren zu tun - es ist schlicht angewandte Neurobiologie.

Das Gehirn gleicht in dieser Zeit ständig ab:

  • „Wie lang ist mein Arm jetzt wirklich?“
  • „Wie schwer fühlt sich mein Bein heute an?“
  • „Wie viel Kraft brauche ich, um von A nach B zu kommen?“
  • „Wo ist mein Körperschwerpunkt?“

All diese Fragen werden neu berechnet. Und das kann so aussehen, als würde sich ein Jugendlicher „verskillen“. Tatsächlich jedoch reorganisiert sich sein motorisches System - und das ist eine Voraussetzung für spätere Leistungsfähigkeit.


Die typischen Auswirkungen im Training

Viele Trainer erkennen diese Phase intuitiv: Athleten bewegen sich plötzlich steifer, unpräziser oder hektischer. Manche beschreiben, dass Jugendliche „zu groß für ihren Körper geworden sind“, andere sagen, die Sportler seien „aus der Balance geraten“.

Sportpsychologen betrachten dieses Phänomen eher als Chance. Denn was zunächst wie ein Rückschritt aussieht, ist eigentlich das Fundament für zukünftige Fortschritte. Der englische Bewegungsforscher Dr. Patrick Lawson schreibt in seinem Buch „Growing into Coordination“:

„Zwischen 12 und 16 Jahren können Jugendliche motorische Muster dauerhaft neu programmieren. Kein anderer Lebensabschnitt bietet so viel Potenzial für technische Perfektion.“

Gerade weil das System instabil ist, lernt es schneller. Es reagiert empfindlicher auf Input, präziser auf Korrekturen und nachhaltiger auf bewusstes Training.


Warum manche Jugendlichen in dieser Phase besonders instabil wirken

Wer Jugendlichen aufmerksam zusieht, erkennt einige typische Muster, die während des Wachstums auftreten:

Die Beinachse verliert an Stabilität.
Das Knie knickt ein, bewegt sich in unerwünschte Richtungen oder wirkt „weich“. Das ist kein Fehler, sondern eine Folge der schnell veränderten Hebelverhältnisse.

Das Gleichgewicht schwankt.
Der Gleichgewichtssinn orientiert sich an Länge, Masse und Drehpunkten. Wenn sich all das verändert, kann der Körper nicht sofort darauf reagieren.

Die Reaktionszeit verändert sich.
Wenn Arme und Beine länger werden, müssen Bewegungen neu abgestimmt werden. Dadurch wirken Athleten manchmal langsamer, obwohl sie es neurologisch nicht sind.

Technik wirkt plötzlich unsauber.
Ein Sprung oder Wurf folgt immer bestimmten biomechanischen Mustern. Wenn sich der Körper verändert, passen diese Muster nicht mehr vollständig.

Das Entscheidende ist: Das alles ist weder Kontrollverlust noch ein Zeichen von Faulheit oder schlechter Tagesform. Es ist die biologische Voraussetzung für den nächsten Entwicklungssprung.


Was Jugendlichen in dieser Phase wirklich hilft

Interessanterweise profitieren Jugendliche gerade jetzt von einem Training, das nicht härter, sondern klüger ist. Technikorientiertes, bewusstes Arbeiten mit niedriger bis moderater Intensität bringt mehr als Vollgas. Stabilität, Mobilität und sauber ausgeführte Bewegungen legen eine Basis, von der Athleten später jahrelang profitieren.

Viele renommierte Trainer betonen, dass in dieser Phase nicht Ergebnisse, sondern Qualität zählt. Der deutsche Nachwuchscoach Lars Demmer, der jahrelang im Jugendfußball gearbeitet hat, formuliert es so:

„Ich habe unzählige Spieler trainiert, die während des Wachstums ‚schlechter‘ wirkten, aber nach der Pubertät explodiert sind. Wer in diesen Jahren sauber arbeitet, wird später doppelt belohnt.“

Regelmäßiges Rumpftraining, kontrollierte Sprung- und Balanceübungen sowie Mobilitätsarbeit für Hüfte und Sprunggelenke bringen spürbare Fortschritte. Gleichzeitig helfen ausreichend Schlaf, gute Ernährung und Pausen, den Körper in der Anpassungsphase zu entlasten.


Was Eltern und Trainer unbedingt wissen sollten

Viele Jugendliche empfinden die Phase der Unkoordiniertheit als irritierend oder sogar peinlich. Manche verlieren kurzfristig Selbstvertrauen, andere fürchten, dass sie schlechter geworden sind. Umso wichtiger ist es, dass Eltern und Trainer eine unterstützende Rolle einnehmen.

Sie sollten wissen:

  • Jeder Jugendliche erlebt diese Phase.
  • Sie ist nicht gleich lang, aber immer vorübergehend.
  • Sie sagt nichts über langfristiges Potenzial aus.
  • Sie ist die beste Zeit für Techniktraining und koordinatives Lernen.
  • Rückschritte sind nicht Rückschritte - sie sind ein notwendiger Zwischenschritt.

Besonders wichtig ist, dass Eltern keine Vergleiche mit anderen ziehen. Manche Jugendlichen wachsen früh, andere spät. Das biologische Alter verläuft nicht im Gleichschritt mit dem Kalender. Zwei gleichaltrige Kinder können körperlich in völlig unterschiedlichen Entwicklungsstadien sein.

Trainer wiederum sollten Intensität sensibel dosieren und technische Sauberkeit über alles stellen. Wenn Schmerzen über mehrere Tage auftreten, sollten Trainingsumfänge reduziert und bei Bedarf medizinischer Rat eingeholt werden - nicht aus Panik, sondern aus kluger Vorsicht.


Fazit: Unkoordiniertheit ist nicht das Problem - sie ist die Lösung

Jugendliche, die sich gerade „komisch bewegen“, stecken nicht in einem Leistungsloch. Sie stecken in einem Neuanfang. Der Körper sortiert sich, das Gehirn kalibriert sich, das gesamte motorische System bereitet sich darauf vor, erwachsen zu werden.

Wer diese Phase versteht, akzeptiert und bewusst nutzt, schafft eine Grundlage, die später kaum nachzuholen ist:

eine stabile Technik, ein gutes Körpergefühl, widerstandsfähige Gelenke und ein tiefes Selbstvertrauen in den eigenen Körper.

Unkoordiniertheit ist kein Rückschritt.
Sie ist ein Upgrade in Echtzeit.

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